Verrückt ist man gründlich und mit Fleiß

Hermann Peter Piwitt

 

Ein großer Kunstsinniger und Dichter, Walter Höllerer, mir zeitlebens Mentor und Freund, starb in diesen Tagen.

Sein Ideal war das (literarische) Kunstwerk. Er hatte die höchsten Maßstäbe. Aber witterte er jemanden, der was konnte, sagte er nur erst einmal vorsorglich: Das ist ein Verrückter. Carin Grudda ist eine Verrückte. Verrückt ist nicht exzentrisch. Verrückt ist man gründlich und mit Fleiß. Flügellos, auf den Hufen eines Brauereipferds, kommt Pegasus in Bronze daher und schnappt nach Luft, als glaubte er, sich noch einmal wie früher emporschwingen zu können. Schuhe sind in Erz erstarrt wie Artefakte aus der Zeit, als wir noch leichten Herzens dahingingen. Ein Schrein ist da, eine Truhe, auch sie in Bronze. Aber nur ungeöffnet wird sie uns einen Schatz verwahren. Öffne sie! Und sie ist leer.

Und Bretter sind da, Bretter von Transport-Rollstraßen der Gießerei, voller Gips- und Brandspuren. Und von den Farben, Zeichen und Figuren, die Grudda draufgibt, glühen sie noch einmal auf. Von Wind und Wellen und Gebrauch durch Menschen her- und zugerichtet ist, was Grudda vorfindet.

Und eh sie zu den Türresten und Schiffsplanken, Dosen, Kronenkorken objets trouvés sagt, macht sie sich was draus: An einem abgestorbenen Baum hängt ein alter Hut. Und er ist nicht von Beuys.¹ Über fette Hüte sind wir hinaus geradeso wie über eine Art von Konzeptkunst, der das Werkstück nichts gilt und das Gegrübel dazu alles.

Zum »Elepardo« verwandelt sich, auf Gummirollen gestellt und farbig gescheckt, der zertretene Bodenrost eines Tretboots. Auf Leinwand in Farbe wird, nach Hugo Ball, noch einmal ein »Jolifanto« draus. Als »Bellafantin« träumt ein alter Heizungskessel auf Bahnschwellen davon, eine veritable Lokomotive zu sein. Und VENUS? Blickt treuherzig mit einem Vogelschwingen-Hütchen auf dem Kopf, von ihrem bronzenen Leib aus meerentstiegenem Baumstamm herab, mit zwei Schneckenhäusern als Brüsten und einer Sternenmöse.

Die Welt der objets trouvés zieht ihr Lachweinegesicht. Seht her, sagen die zusammengefundenen Dinge, wir sind nicht mehr aus reinem Wald, aus purem Berg, nicht Marmor und nicht edle Hölzer; das Naturwüchsige wäre allemal bloß noch Rest, Nische. Aber von Farben und Fantasie, von Zeichen und planendem Zufall ermuntert, sind wir wieder. Ovid ist da und grüßt aus seinen »Metamorphosen« herauf: Aus »Lotterhund« und »Custos virginum« mit Feuersalamander-Fell wächst über Jahre der »Zerberus«, aus ersten kleinen Figuren zur großen Bronze. Wächter und Beschützer, der Einlass verwehren kann geradeso wie Kinder Huckepack nehmen. 1600 Kilogramm Ton hat Grudda dazu eigenhändig auf das Gestell aus Eisenstangen und Maschendrahtgitter gebracht, um die Negativform für den Guss vorzubereiten. Hat endlich die Bronze mit dem Bunsenbrenner erhitzt, das Kupfernitrat aufzubringen, um die vorzeitige Oxydation zu erzielen. So wie man’s halt macht. Mit Fleiß.

Warum aber ihre Patina manchesmal blau und nicht grün ist, bleibt ihr Geheimnis. Kontrastfarben meidet sie. Farben, die sich bis zur Dissonanz nah sind, sind die ihren: Rot, Orange und Pink, Blau, Grasgrün, Türkis und Violett. Dass der Zauber nicht bricht. Dass aller Tiefsinn versteckt bleibt da, wo sich das Geheimnis am sichersten verwahren lässt: an der Oberfläche.

Zur Not verwahrt es Zerberus.

 

¹ Der Baum ist die Eiche 115 der 7000 Eichen von Beuys in Kassel zur Dokumenta 1985.
Die Eiche wurde bei einem Autounfall zerstört und durch einen neuen Baum ersetzt. Der versehrte und bereits entsorgte Baum wurde von Grudda mitsamt den Wurzeln in Bronze gegossen.